Der Blutabend von Lissabon. Ein Attentat versetzt der portugiesischen Monarchie den Todesstoß
Selten zuvor war die politische Stimmung in Portugal so aufgeheizt wie im Winter des Jahres 1908. Am Abend des 1. Februar kam es dann zum Äußersten: Sechs republikanische Attentäter erschossen auf offener Straße König Dom Carlos und seinen Sohn Luís Filipe. Der „Lissaboner Blutabend” von 1908 bewegt noch immer die Gemüter in Portugal – Royalisten und Republikaner stehen sich selbst heute oft noch unversöhnlich gegenüber.
Als der portugiesische König Dom Carlos am späten Nachmittag des 1. Februar 1908 wieder Lissaboner Boden betrat, muss er um die Gefährlichkeit dieser Rückkehr in die Hauptstadt gewusst haben. Es brodelte in der Stadt. Immer offener, immer vehementer forderten die Republikaner ihr Recht auf politische Teilhabe in Portugal ein.
Um das Land stand es schon seit geraumer Zeit nicht gut: 1892 musste Portugal einen teilweisen Staatsbankrott erklären. Seit Jahrzehnten war das Land einzig und allein vom wirtschaftlichen und politischen Wohlwollen Englands abhängig. Und auch alle nationalistischen Expansionspläne waren längst ausgeträumt: Schon zu Beginn von Dom Carlos’ Amtszeit im Jahr 1889 scheiterten Portugals Bemühungen am Widerstand Englands, in Afrika einen Landkorridor zwischen den beiden Kolonien Mosambik und Angola zu schaffen.
Und so schleppte sich das Land von einer politischen Krise in die nächste. Das Parlament wurde von zwei Parteien beherrscht, die sich die Macht in einem Rotationssystem teilten – wobei sowohl die „progressive” wie auch die konservative Partei rein monarchistische Kräfte waren.
König Dom Carlos verfügte während seiner insgesamt eher glücklosen Amtszeit über einen ohnehin begrenzten Handlungsspielraum. Seit gut zwei Jahren regierte João Franco als Ministerpräsident im Gefüge der konstitutionellen Monarchie – und mit der Zeit entwickelte Franco nach anfänglichen Liberalisierungen einen immer repressiveren Regierungsstil.
Und selbst seine geringen politischen Freiräume nutzte der König kaum aus: Dom Carlos war zwar ein vielseitig interessierter Mensch - aber auch außerordentlich exzentrisch und nicht gerade mit einem allzu großen politischen Talent gesegnet.
„Hätte es das Attentat nicht gegeben, so wäre er nur als der malende König in die Geschichte eingegangen”, meint auch der Carlos-Biograf Rui Ramos im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Lusa. Kunst, Malerei, Meeresforschung – das waren die Passionen des Dom Carlos, der einem Zweig des Hauses Sachsen-Coburg angehörte.
Ein edler, kunstsinniger, weltoffener König – dieses Bild zeichnen die Monarchisten in Portugal gerne heute noch von Dom Carlos. Auf der anderen Seite stehen aber auch die Berichte von einer dekadenten königlichen Familie, die durch ihren luxuriösen Lebenswandel in einem verarmten Land den Zorn derMenschen auf sich zog. So berichteten die Innsbrucker Nachrichten nach dem Attentat vom 1. Februar 1908 über das schlechte Ansehen der portugiesischen Adelsfamilie:
„Das traurigste Kapitel der jüngsten Geschichte Portugals aber bildete das, was über das Treiben des Hofes erzählt wird. Die galanten Abenteuer des Königs, überhaupt sein Privatleben, waren in der oppositionellen Presse des Landes eine Zeit lang geradezu ständige Rubrik. Man hatte vor dem König gar keinen Respekt und in Wort und Bild zog die Spottsucht gegen ihn los. Sein Bruder soll es noch ärger getrieben und der Aufwand der Königin-Mutter soll alle Grenzen überstiegen haben. Die Mittel hiezu musste der Staat hergeben. Ein republikanischer Abgeordneter wies in der Kammer einmal nach, dass eine große Summe, die für den Bau eines Panzerschiffes im Budget eingestellt war, für die Begleichung der Schulden des königlichen Hauses verwendet wurde.” (Innsbrucker Nachrichten, 3. Februar 1908).
War es in einer solchen Situation verwunderlich, dass die republikanischen Strömungen – ähnlich wie schon beim Nachbar Spanien – an Stärke gewannen? Im einst so ruhigen Portugal fing es an zu brodeln. Immer wieder kam es zu kleinen Aufständen, vereinzelt gingen in Lissabon sogar Bomben hoch: Es war die Zeit der Verschwörungen, Konspirationen, Gerüchte. Die Revolution lag in der Luft – und fast wäre sie geglückt.
Der 28. Januar 1908 sollte der Tag des Umsturzes sein – wäre es nach den Plänen von einigen prominenten Verschwörern gegangen, die den „Golpe do Elevador da Biblioteca” planten. Dieser Umsturz, benannt nach einem heute nicht mehr existierenden Aufzug am Largo de São Julião (Foto: Stadtarchiv von Lissabon), scheiterte. Der Plan der Revolutionäre war es, João Franco zu ermorden und einige strategisch wichtige Punkte in der Stadt zu besetzen. Als Kommandozentrale sollte der Aufzug an der Bibliothek dienen, in dessen Kabine die Drahtzieher ausharren wollten. Einem Polizisten kam es jedoch reichlich seltsam vor, dass sich so viele Männer in einen Aufzug drängten, der zu dieser Zeit überhaupt nicht fuhr – und vereitelte so die Aktion.
Nach dieser gescheiterten Revolte war der Druck in der Stadt freilich umso größer – zumal Ministerpräsident João Franco den König gedrängt hatte, ein Dekret zu unterzeichnen, das für alle Teilnehmer am Golpe die ungewöhnlich harte Strafe des Exils vorsah. “Ich unterschreibe hier mein Todesurteil” soll der König beim Unterzeichnen des Dokuments am 30. Januar gerufen haben.
Angesichts der dramatischen Entwicklungen beschloss der eigentlich im Alentejo auf Jagdurlaub weilende Dom Carlos, früher als geplant in die Hauptstadt zurückzukehren. Am 1. Februar 1908 begannen sich also die zwei Wege zu kreuzen: Die der Monarchie und die der Verschwörer. Beide Spuren dieses so denkwürdigen Tages kann man auch noch im Lissabon von heute verfolgen.
Dom Carlos nahm aus dem Alentejo den Zug, der sich unterwegs eine Verspätung von einer Stunde einhandelte – eine leichte Entgleisung schien das Schicksal noch einmal verzögern zu wollen. Zur gleichen Zeit trafen sich im Lissaboner Café Gelo am Rossio die Verschwörer. Ihre Waffen lagen schon bereit, verborgen im Palácio Alverca, der heute das bekannte Casa do Alentejo beherbergt.
Das Café Gelo war ein typischer konspirativer Treff jener Zeit, in dem sich gerne die Mitglieder des Carbonária-Geheimbundes versammelten. Noch heute hängen im Café Gelo Bilder vom „Regícidio”, dem Attentat des 1. Februar 1908.
Im Alentejo kann indes die kleine Störung behoben werden und der Zug der königlichen Familie nimmt weiter Kurs auf Lissabon. Der Zug endet am linken Tejoufer in Barreiro. Von hier aus besteigt die königliche Familie den Dampfer „D. Luiz”, der sie an den Terreiro do Paço (Praça do Comercio) in Lissabon bringt. Um 17:20 Uhr – anderen Versionen zufolge zehn Minuten eher – verlassen der König, seine Söhne und seine Ehefrau das Schiff – und besteigen die offene Kutsche.
Warum ausgerechnet die Kutsche – und keinen geschlossenen Wagen? Diese Frage gehört zu den bis heute ungeklärten Geheimnissen, die sich um dem Regicídio vom 1. Februar 1908 ranken. Denn der König hätte auch auf Autos zurückgreifen können – warum wählte er also in einer politisch aufgeheizten Situation das gefährlichere Transportmittel?
Die königliche Familie fährt auf der Westseite des Terreiro do Paço entlang. Versammelt sind auch die Mitglieder der Regierung sowie einzelne Bürger, die respektvoll die Hüte ziehen. Hier, kurz vor der Ecke zur Rua do Arsenal, schlagen die sechs Attentäter zu. Zwei Konspirateure wurden besonders bekannt: Durch die Kugeln des Grundschullehrers Manuel dos Reis Buíça und des Ladenangestellten Alfredo Costa starben König Dom Carlos und – wenig später – sein Sohn und designierter Thronnachfolger, der 20jährige Prinz Luís Filipe. Während Buíça sich auf dem offenen Platz zunächst hinter einem Kiosk verbirgt, positioniert sich Costa unter den Arkaden des Terreiro do Paço – die Attentäter nahmen so die Kutsche des Königs wahrhaft in die Zange.
Zwei Attentäter bedrängen den König. Bild von Carlos Alberto. Quelle: Arqnet
Die ebenfalls mitreisende Königin Dona Amélia wird nur leicht verletzt – noch heute gibt es viele Bilder zu bewundern, wie sie, ganz außer sich, nur mit einem Blumenstrauß „bewaffnet” den Attentätern zur Wehr setzen will. Auch der zweite Sohn der Familie, der erst 18jährige Manuel, bleibt unverletzt – und soll wenig später zum letzten amtierenden König Portugals gekrönt werden: Die Revolution von 1910 wird ihn schon wenig später vom Thron vertreiben.
Viele der Attentäter werden bereits am Tatort von den Begleitern des Königs und der Polizei getötet. Andere nehmen sich später im Gefängnis selbst das Leben. So kam es später auch nie zu einem ordentlichen Prozess, der die genauen Umstände des „Regicídio” von 1908 aufgearbeitet hat. Bis heute sind wichtige Hintergründe der Tat deshalb unklar. Vor allem eine Frage lädt weiterhin zum Spekulieren ein: Handelten Buíça, Costa & Co aus eigenem Antrieb – oder gab es doch noch einen Hintermann, der für das Attentat verantwortlich war? Die modernen Waffen der Attentäter wurden vermutlich von Adeligen bezahlt: Meist wird der Visconde da Ribeira Brava aus Madeira als Geldgeber vermutet, andere Quellen sprechen hingegen vom Visconde de Pedralva.
Die Tatorte rund um den Terreiro do Paço in Lissabon lassen sich heute noch besichtigen. Am Platz selbst erinnert eine Gedenktafel an das Attentat vom 1. Februar 1908. Nach den tödlichen Schüssen wurde die königliche Eskorte schnell in das Arsenal da Marinha (wo sich heute das Tourismusbüro von Lissabon befindet) gebracht, wo nur noch der Tod des Königs und seines erstgeborenen Sohns festgestellt werden konnte. Im nahegelegenen Rathaus von Lissabon wurden die Leichen schließlich aufgebahrt und der Tod des Königs öffentlich verkündet.
Über Lissabon legte sich ein Schleier der Agonie: Die Polizei fahndete unter Hochdruck nach weiteren Waffen- und Bombenverstecken, das öffentliche Leben kam zum Erliegen. Kaffeehäuser und Läden schlossen – der Ausbruch einer Revolution lag in der Luft. Ganz Europa richtete plötzlich den Blick auf das sonst so abgelegene Portugal. Wie sehr der Königsmord die Runde machte, zeigt die Kurzgeschichte „The Enemy of All World” von Jack London (1914), die in verfremdeter Form das Attentat auf den portugiesischen König wieder aufgreift.
Der Regicídio von 1908 war das erste politische Attentat in Portugals Geschichte. Andere sollten folgen – und dennoch beschäftigt der nun genau 100 Jahre zurückliegende Königsmord weiterhin viele Portugiesen. So versammelten sich am 1. Februar 2008 auf dem Terreiro do Paço in Lissabon rund 500 Monarchisten, die an die Schreckenstat von 1908 gedachten – und einige ganz Getreue legten sogar noch an den Gräbern von Carlos und Luís Filipe auf dem Friedhof Alto de S. João Kränze nieder.
In bisweilen erstaunlicher Heftigkeit wird auch heute noch zum Beispiel auf monarchistischen Websites von der Verabscheuungswürdigkeit des Attentats gesprochen, als ob das Ereignis erst gestern zurückliegen würde. Und auch die Republikaner sind noch da: Zeitgleich zum Monarchisten-Treff versammelten sich ebenfalls auf dem Terreiro do Paço ein paar Dutzend anarchistischer Jugendlicher, die den Attentätern vom 1. Februar 1908 huldigten. Anscheinend ist sich Portugal noch immer nicht sicher, was es von Dom Carlos und João Franco zu halten hat – die aufgeklärte Lichtgestalt, als die ihn so manch ein Biograf selbst in neueren Veröffentlichungen darstellt, war er bestimmt nicht.